Die Abstraktion der Natur

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Anmerkungen zu den Arbeiten Thomas Graics

Christian Schoen )*

 

Die Fotografie ist ein hybrides Medium. Sie tritt uns in unterschiedlichster Form, in den vielfältigsten Qualitäten und Kontexten entgegen. Fotografie ist nicht gleich Fotografie. Die Terminologie ist noch immer viel zu ungenau, um dem Phänomen tatsächlich gerecht werden zu können. So bezeichnen wir großformatige Werbeaufnahmen an Bushaltestellen, das Bild der Familie auf dem Bildschirmschoner oder die illustrierenden Bilder in einer Zeitung mit ein und demselben Begriff. Dabei sollte es uns nicht gleichgültig sein, ob ein Bild auf Fotopapier ausbelichtet, auf Zeitungspapier tausendfach gedruckt oder digital verschickt wird. Es muss einen Unterschied machen, ob wir ein und dasselbe Motiv als gerahmte Aufnahme in einer Ausstellung, als Poster über dem Bett oder als Abdruck auf einem Kaffeebecher sehen. Mit derselben Sorgfalt, mit der wir registrieren, wie in vergangenen Jahrhunderten bildliche Botschaften in unterschiedlichen Bildmedien und -formaten vermittelt wurden, sollten wir uns der vielfältigen Erscheinungsform der Fotografie widmen. Fotografien wohnt das Potential der visuellen Aufklärung inne, und das im doppelten Sinn: einerseits hilft sie das Medium selbst zu definieren, zum anderen behandelt sie das, was sie abbildet. Und das Abgebildete ist per se ein Teil dessen, was wir als Realität bezeichnen.

Die Realität, die den Bildern Graics zugrunde liegt, ist eine, die sich uns nicht unmittelbar vermittelt. Das hat zweierlei Gründe: Zum einen handelt es sich um Luftaufnahmen, d.h. sie werfen einen Blick auf unsere Welt, der für uns nicht alltäglich ist. Zum anderen sind es Ausschnitte einer einzigartigen Landschaft, wie sie in dieser Form wohl kein zweites Mal zu finden ist. Die Aufnahmen sind in Island entstanden, jener erdgeschichtlich jungen Insel im Nordatlantik, in der die elementaren Gegensätze von Feuer und Eis aufeinandertreffen, und die aufgrund der größtenteils unberührten Natur und dem kolportierten Glauben seiner Einwohner an mystische Naturwesen ein begehrtes Ziel romantischer Abenteurer ist.  Die Vorstellung von dem, was Island sei, hat nicht unbedingt etwas mit seiner modernen Gesellschaft zu tun, sei aber an dieser Stelle im Raum stehen gelassen.

Graics Bilder resultieren aus der Zusammenführung seines langjährigen Berufs als Pilot und seiner Berufung als Maler. Zuerst als Autodidakt, dann im Studium an der Freien Kunstakademie in Essen entwickelte er sein spezifisches Gespür für Formen und Farben. Sein ehemaliger Beruf als Luftfahrtingenieur und Pilot ermöglichte ihm, die Welt intensiver aus der Vogelperspektive zu sehen, als es den meisten Künstlerkollegen möglich ist. Bereits seit 2004 besucht Thomas Graics regelmäßig Island, jenen Inselstaat der flächenmäßig etwa so groß ist wie Portugal, jedoch dünn besiedelt ist und eine sehr reduzierte Flora und Fauna aufweist. Dagegen wird die Landschaft bestimmt von monumentalen gletscherbedeckten Bergen, lieblich grünen Tälern und kargen, schwarzen Lavafeldern, die von grünlich-milchigen Gletscherflüssen durchzogen werden. Diesen Flüssen, die auf ihrem Weg zum Meer ständig ihren Verlauf und ihr Aussehen verändern, gilt Graics Augenmerk. Der spezifische Mineraliengehalt verleiht den Flüssen ihr charakteristisches Aussehen, er lässt das Licht diffus brechen und zu bestimmten Tageszeiten erscheint es, als würden sie aus sich heraus leuchten. Diese Flüsse mäandern sich aus dem Hochland durch graues Geröll, schwarzen Lavasand oder rötliche Lehmböden, vermischen sich in aquarellartigen Farbverläufen, bevor sie sich in einem Delta auffächern und ins Meer ergießen.

Diese geologisch beindruckenden Erscheinungen faszinieren den Künstler, der für seine Beobachtung und Materialsammlung die besondere Warte aus der Luft einnimmt. Bildgeschichtlich betrachtet, ist das ein interessanter Vorgang, denn Graics setzt durch den eingenommenen 90° Winkel die Fläche der Landschaft mit der Bildfläche gleich. Im Vergleich zu Jacopo de Barbaris berühmten Holzschnitt aus dem Jahr 1500, der die Lagunenstadt Venedig aus einer imaginierten Vogelperspektive zeigt oder auch Nadars erster fotografischer Luftaufnahme von Paris 1858, ist bei Graics kein Horizont erkennbar. Die Perspektive wird zurückgedrängt und die Landschaft auf die Fläche abstrahiert. Aus technischer Warte steht er damit in der Tradition der Kartographie und militärischer Luftaufklärung. Doch bereits das frühe Beispiel de Barbaris zeigt, dass der Wunsch, sich einen Überblick über die Welt zu verschaffen und diesen im Bild festzuhalten, der tatsächlichen Bildproduktion aus Luftschiffen und Flugzeugen weit vorausging. Kunsthistorische Interpretationen setzten den erhöhten Betrachterstandpunkt mit territorialer oder göttlicher Macht gleich. Heute jedoch, in Zeiten von Google-Earth, ist das Satellitenbild zum Volksgut geworden. Vor diesem Hintergrund, nach dem Wegfall dieses Hoheitsanspruches, erhalten Graics Aufnahmen etwas sehr privates, geradezu intimes, liegt ihnen doch offenkundig ein ästhetischer Zugang zugrunde. Das Bannen der Landschaft auf die Fläche ist die Voraussetzung hierfür. Und so lassen sich seine fotografischen Bilder rein formal betrachten. Aus dem Fehlen von Horizont, von räumlicher Tiefe resultiert die Konzentration auf Formen und Farben. Als seien sie abstrakte Gemälde werden die Bilder von formalen Gegensätzen belebt oder durch harmonisches Zusammenspiel von Farben und Formen dominiert. Doch ist es nicht der Künstler, der hier die bildnerischen Prozesse beeinflusst, sondern es ist die Natur selbst. Graics ‚malerische‘ Entscheidungen konzentrieren sich auf die Materialsammlung,  d.h. zuerst auf die eines Ausschnitts, dann eines Motivs und letztlich auf die Übertragung in ein Bildformat, das der Fragilität des Sujets gerecht wird. Der Terminus „Fotografie“ wird noch immer verwendet, obwohl sich die halbtransparente Form hinter Glas oder im Leuchtkasten, von der ursprünglichen des auf Fotopapier ausbelichteten Bildes unterscheidet. Fotografie ist nicht gleich Fotografie.

Auch wenn sich der Maler und Fotograf Thomas Graics von den malerischen Qualitäten der Natur leiten lässt, so dokumentiert er doch automatisch auch den Zustand eines Landes im Wandel. Zunehmend schleichen sich auch in seine Arbeiten die Spuren zivilisatorischer Eingriffe ein, die sukzessive auch die isländische Natur verändern. So wird einmal mehr deutlich, dass dem fotografischen Medium der Charakter des Dokumentarischen innewohnt, auch wenn es scheinbar rein ästhetisch verwendet wird. Vor diesem Hintergrund scheinen Graics Aufnahmen beispielhaft die Zwitterfunktion der Fotografie als künstlerisches Bildverfahren einerseits und Bilddokument einer vergangenen Realität andererseits zu verkörpern.

 

)* Dr. Christian Schoen ist Leiter des Centers for Icelandic Art (CIA.IS)

und Leiter der  Osram Art Gallerie